„Bis Ende Februar 2020 kannten wir nur Rekordbeschreibungen vom deutschen Arbeitsmarkt. Noch nie waren so viele Menschen erwerbstätig. Noch nie waren so viele Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Noch nie zählten die Agenturen für Arbeit seit 1990 so wenig arbeitslos gemeldete Menschen, noch nie verzeichnete man in Deutschland eine so große Zahl offener Stellen“, so Gerhard Wiesler, Vorstandsmitglied von Demografie Exzellenz e. V. und Direktor bei Kienbaum Consultants International. Fachkräfte wurden in nahezu allen Branchen gesucht, besonders hoch war (und ist) der Bedarf im Bereich der Gesundheit und Pflege. Seismograph dieser Entwicklung war auch die Zahl der Bewerbungen um den ‚Demografie-Exzellenz-Award 2019‘, die sich um das Thema Fachkräftegewinnung, -bindung und -entwicklung rankte. Nicht zuletzt deshalb hat die deutsche Politik mit Wirkung vom 1. März 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, mit dem Deutschland nun auch faktisch ein Einwanderungsland wurde.

Ende Mai 2020 ergibt sich ein vollkommen anderes Bild. Rund zehn Millionen Menschen sollen Kurzarbeitergeld erhalten, rund drei Millionen Menschen sind zwischenzeitlich arbeitslos. Flaggschiffe der deutschen Wirtschaft, aber vor allem Hunderttausende mittelständischer Betriebe sowie Soloselbständige beantragten Zuschüsse bzw. Kredite im Rahmen der Corona-Hilfen des Bundes bzw. der Länder. Sinnbild ist die ‚Deutsche Lufthansa‘, deren Flugzeuge zu 90 Prozent am Boden bleiben. Flugzeugparkplätze lautete der neue Engpass. Die Möglichkeit einer Insolvenz hängt wie ein Damoklesschwert über viele Betriebe, zum Beispiel in der Gastronomie oder im Reisebürowesen.

Nun verlassen – demografiebedingt – rund 250.000 bis 300.000 mehr Menschen jährlich altersbedingt den Arbeitsmarkt als das aufgrund des Rückgangs der Geburten der letzten Jahrzehnte nachkommen könnte. Zudem werden die geburtenstarken Jahrgänge in den nächsten 15 Jahren in großer Zahl den Arbeitsmarkt verlassen und Lücken hinterlassen, die es zu schließen gilt. „Diese Entwicklungslinien – coronabedingte Kurzarbeit und Arbeitskräftefreistellung, demografiebedingte strukturelle Arbeitsmarktveränderungen – gilt es zusammen zu denken“, mahnt Vorstandsmitglied Claus Kruse.

Hinzu kommt der Schub der Digitalisierung, der dank des Corona-Virus die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Plötzlich ist Homeoffice nicht nur denk- und machbar, es wird über eine strukturelle Verfestigung nachgedacht. Geschäftsreisen werden durch Videokonferenzen ersetzt, Fortbildung durch Webinare ermöglicht. Auch in den Schulen und Hochschulen setzt sich digitale Bildung verstärkt durch, wenn es die Infrastruktur, die Versorgung mit Endgeräten und die Fortbildung der Lehrkräfte erlauben.

Die coronabedingten Grenzschließungen haben zudem verdeutlicht, was das auf den Spargelfeldern der deutschen Landwirte und in rund 250.000 Privathaushalten mit einer zu pflegenden Person bedeutet. Der Arbeitsmarkt bleibt auf eine grenzüberschreitende Versorgung auch in Zukunft angewiesen.

Die früheren politischen Antwortreflexe bei Turbulenzen auf dem Arbeitsmarkt haben zu den Instrumenten „sozialverträglicher Personalabbau“, „Frühverrentung“ oder „nationale Abschottung“ geführt. Die ersten Rufe signalisieren heute den Rückfall in diese Instrumentenkiste. „Viel wichtiger wird es aber, die Arbeitsmarktherausforderungen mit der Demografie, der Digitalisierung und der Migration zusammen zu denken, denn sie wirken ineinander und verstärken einander“, betont Dr. Uwe Schirmer, Vorstandsmitglied und Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Lörrach.

Noch bleibt die große Masse der in Kurzarbeit befindlichen Menschen ihren Betrieben treu – doch wie lange noch? Die Ressource Mensch braucht neben seinem vorhandenen Talenten vor allem Fort- und Weiterbildung, wenn Fachkräfte aus der einen Branche in eine andere wechseln sollen und wollen. Hier gilt es Strukturen und Angebote – auch digital – aufzubauen. Wird die Berufsschule von heute das Lernzentrum für Generationen von morgen?

Ein aktuelles Beispiel mag das beleuchten: Die Lockerungen der Corona-Kontaktregeln können mittel- und langfristig nur dann wirken, wenn im Falle eines akuten Infektionsausbruchs die Infektionsketten rasch identifiziert und unterbrochen werden. Das sollen die 404 Gesundheitsämter in den 297 Landkreisen und 107 kreisfreien Städten leisten. Aus diesem Grund vereinbarten die Bundeskanzlerin und die Länderchefinnen bzw. -chefs am 15. April 2020, dass „in den öffentlichen Gesundheitsdiensten vor Ort erhebliche zusätzliche Personalkapazitäten geschaffen“ werden, „mindestens ein Team von fünf Personen pro 20.000 Einwohner“. Rund zwei Drittel der Gesundheitsämter haben daraufhin Personalbedarf angemeldet, treten gleichzeitig an den Arbeitsmarkt und suchen nun die Menschen, die sie brauchen. Doch auch wenn die Stellen nun geschaffen, ihre Finanzierung nun gesichert ist: Woher kommen die Menschen für diese Stellen? Und welche Lücken reißen sie gegebenenfalls an anderen Stellen? Die angekündigte Corona-Verfolgungs-App, die diese Arbeit der Gesundheitsämter digital massiv erleichtern würde, fehlt hingegen noch immer.

Wer Lösungen für die Zukunft der Arbeit nach Corona anstrebt, der darf den demografischen Wandel, die Digitalisierung und die wachsende Diversität einer weltoffenen Gesellschaft nicht unberücksichtigt lassen. Corona hat belegt, dass gestern für undenkbar Gedachtes, heute für nicht machbar Gehaltenes, morgen normale Realität sein kann. Dr. Sabine Voermans, Vorstandsmitglied und Leiterin des Gesundheitsmanagements der Techniker Krankenkasse: „Diese Anpassungsfähigkeit brauchen wir auch bei der Gestaltung des demografischen Wandels auf dem Hintergrund einer digitalen und weltoffenen Gesellschaft. ‚Demografie Exzellenz e. V.‘ wird diesen Entwicklungen bei der Ausschreibung des Award künftig verstärkt Rechnung tragen.“

Verantwortlich: Dr. Winfried Kösters, Tel.: 0049 2271 92858