Wenn in Deutschlands Wohnzimmern das Lied „Ihr Kinderlein kommet …“ angestimmt wird, singen die Kanzlerin und ihre Regierungsmitglieder „Ihr Fachkräfte, o kommet doch überall her…“. Deutschland sucht Fachkräfte. Wer das noch bezweifelte, dem wurde auf dem Gipfeltreffen im Kanzleramt am 16. Dezember 2019 klar: Jedes Jahr verlassen den deutschen Arbeitsmarkt altersbedingt mehr Menschen als neu in ihn hinein wachsen. Experten beziffern diese Lücke auf 250.000 bis 300.000 Menschen pro Jahr. Allein der Freistaat Sachsen muss bis 2030 rund 330.000 Menschen gewinnen, die als Fachkräfte dorthin kommen wollen, wo manche Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens zumindest nicht gewollt werden.

Angela Merkel will dem Fachkräftemangel begegnen, unter anderem durch das Fachkräftezuwanderungsgesetz, dass am 1. März 2020 in Kraft tritt. Insbesondere Menschen aus Ländern außerhalb der Europäischen Union sollen motiviert werden, nach Deutschland zu kommen. Doch die Realität ist ernüchternd: Wenn ein deutscher Unternehmer und eine indische IT-Fachkraft sich zum Beispiel einig sind, braucht dieser in Indien lebende Mensch rund neun Monate, um einen Termin in einem deutschen Konsulat zur Ausstellung eines Visums zu erhalten.

Ernüchternd ist auch die Tatsache, dass der Fachkräftebedarf nicht neu ist. Schon im Januar 2011 veröffentlichte die Bundesagentur für Arbeit eine Publikation mit dem Titel: „Perspektive 2025: Fachkräfte für Deutschland“. Darin wird beschrieben, dass aus demografischen Gründen das Erwerbspersonenpotenzial dramatisch sinken wird. Zehn Handlungsfelder wurden identifiziert, mit denen dazu beigetragen werden könnte, den Fachkräftebedarf der Zukunft zu begegnen. Dazu zählten zum Beispiel die Handlungsfelder „Schulabgänger ohne Abschluss reduzieren“, „Ausbildungsabbrecher reduzieren“, „Studienabbrecher reduzieren“, aber auch „Zuwanderung Fachkräfte steuern“. Knapp zehn Jahre später tritt ein Fachkräftezuwanderungsgesetz in Kraft. „Der Fachkräftemangel ist seit Jahren ein Top-Thema in den Unternehmen und gilt mittlerweile als größte Bedrohung für die Wertschöpfung am Standort Deutschland“, berichtet Gerhard Wiesler, Vorstandsmitglied von Demografie Exzellenz e. V. und Partner bei Kienbaum Consultants International GmbH.

Hinzu kommt, dass sich der Arbeitsmarkt völlig neu aufstellt, weil künftig der Arbeitnehmende entscheidet, wo er arbeiten will und nicht mehr der Arbeitgebende aus einem Bewerberpool auswählt, wer bei ihm arbeiten darf. Dass mehr Generationen und Kulturen am Arbeitsplatz miteinander auskommen müssen, ist eine weitere Tatsache. Wenn es immer schwieriger werden wird, Fachkräfte zu gewinnen, kommt der Bindung und der Entwicklung dieser Menschen eine immer größere Rolle zu. Dabei gilt es auch Zielgruppen in den Blick zu nehmen, an die man zuvor lange nicht dachte oder denken wollte: Migranten zum Beispiel.

Schon der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) wusste nach der Welle der Gastarbeitenden (1955 – 1963) zu bilanzieren, dass wir Arbeitskräfte riefen, aber Menschen kamen. Der Integration dieser Menschen wurde praktisch keine Bedeutung beigemessen. 1955 wurde der erste Gastarbeitervertrag mit Italien geschlossen. 2016 beschloss der Deutsche Bundestag das Integrationsgesetz. 61 Jahre später. Das Ausländerrecht, das 1965, nachdem bereits eine Million Gastarbeitende im Land waren, geschaffen wurde, befindet sich in der Rechtsrubrik „Gefahrenabwehrrecht“. Demnach ist der Ausländer/die Ausländerin eine Gefahr – bis heute.

Aber was soll einen (qualifizierten!) Menschen motivieren, nach Deutschland zu kommen? Sind unsere Ausländerämter Willkommenszentralen der weltweiten gesellschaftlichen Vielfalt? Verfügen die Kommunen über erprobte Integrationskonzepte?

Unternehmensberater Claus Kruse, Vorstandsmitglied und Vorsitzender des BDU-Forums Baden-Württemberg, verweist auf einen der drei Preisträger des ‚Demografie Exzellenz Award 2019“: die „Online-Vermittlungsplattform Mecasa für häusliche Betreuungskräfte aus Osteuropa“. Die Idee des Stuttgarter Start-Up-Unternehmers Oliver Weiss war es, nicht nur den Menschen in Deutschland, die eine Pflegekraft suchen, behilflich zu sein, sondern auch denen, die sich – aus dem osteuropäischen Ausland kommend – für Pflege in Deutschland interessieren, Sicherheit und Willkommen zu signalisieren. Oliver Weiss: „Das Entscheidende war (und ist), den Menschen zuzuhören, sich einzufühlen und die Erkenntnisse anschließend in geeigneter Form umzusetzen.“ Es kommen eben Menschen und keine Arbeitskräfte. „Wer will, dass die aus dem Ausland zuwandernden Menschen in Deutschland auf Dauer als Fachkraft bleiben, der muss auch etwas dafür tun, dass sie sich als Menschen in Deutschland wohlfühlen“, so Dr. Sabine Voermans, Vorstandsmitglied von Demografie Exzellenz e. V. und Leiterin des Gesundheitsmanagements der Techniker Krankenkasse.

Am 1. Januar 2020 übernimmt Kroatien die Präsidentschaft in der EU. Ein Thema, das neu auf die Tagesordnung kommt, lautet: „Abwanderung junger Fachkräfte stoppen“. Deutschland übernimmt dann am 1. Juli 2020 die EU-Präsidentschaft. Deutschlands Ziel: „Ihr Fachkräfte, o kommet doch überall her …“. Jetzt rächt sich, dass den demografischen Wirkungen in den letzten Jahren gesellschaftspolitisch kaum Bedeutung beigemessen worden ist. „Der Verein ‚Demografie Exzellenz e. V.‘ versucht seit mehr als zehn Jahren, diesem Thema mit der Vergabe seines Awards mehr Öffentlichkeit zu verschaffen, in dem es nicht nur auf Probleme hinweist, sondern auch Lösungen transportiert“, zeigt sich Prof. Dr. Uwe Schirmer, ebenfalls Vorstandsmitglied und Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Lörrach, selbstbewusst.

Fazit: Wer Fachkräfte nach Deutschland holen möchte, braucht ein Gesamtkonzept. Eine Stellschraube (Fachkräftezuwanderungsgesetz) reicht nicht. Doch dazu müssten alle mit anpacken. Es bleibt eine gemeinsame Anstrengung aller gesellschaftlich Handelnden notwendig. Doch noch immer wird der demografische Wandel nachhaltig unterschätzt. 

Verantwortlich: Dr. Winfried Kösters, Tel.: 0049 2271 92858