Seit Adam und Eva denken wir in Mann und Frau. Doch seit dem 22. Dezember 2018 denken wir in männlich, weiblich und divers? Ist in der Gesellschaft angekommen, dass die Anrede „meine sehr geehrte Damen und Herren“ nicht mehr vollständig ist? Kaum.

Seit Urzeiten denken wir in drei Generationen: Kinder, Erwachsene und Ältere. Gängige Denkschemata lauten „jung“ und „alt“. Doch wer ist heute wann (noch!) jung, wann (bereits?) alt? Statt der drei Generationen, die noch die Bibel kannte, kennen wir heute fünf Generationen in einem Jahrhundert: Das Baby, die 25jährige Mutter, die 48jährige Großmutter, die 72jährige Urgroßmutter und die 94jährige Ururgroßmutter. Denken wir in fünf Generationen? Denken wir überhaupt in Generationen oder immer noch in Quartal(sbericht)en? Denken wir daran, dass von den fünf aufgezeigten Generationen zwei sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, drei nicht? Haben wir die sogenannten Generationenverträge Rente, Gesundheit, Pflege an diese Entwicklungen angepasst? Kaum.

Von 1965 – 2014 zählten die Statistiker in Deutschland 71 Millionen Wanderungsbewegungen über die nationale deutsche Grenze (ohne Touristen). Dividiert man 71 Millionen durch die 49 Jahre dieses gemessenen Zeitraums, so sind im Durchschnitt statistisch 1,5 Millionen Menschen seit 1965 nach Deutschland jährlich ein- und/oder ausgewandert. Doch noch immer sind Menschen felsenfest davon überzeugt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. 1955 ist der erste Gastarbeitervertrag mit Italien geschlossen worden, 2016 beschloss der Deutsche Bundestag ein Integrationsgesetz. Am 1. März 2020 wird das erste Fachkräftezuwanderungsgesetz rechtskräftig. Das bundesdeutsche Ausländerrecht (1965 geschaffen) befindet sich noch immer in der Rubrik „Gefahrenabwehrrecht“. Allein der Freistaat Sachsen muss bis 2030 rund 330.000 Menschen gewinnen, die als Fachkräfte dorthin kommen wollen, wo manche Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens zumindest nicht gewollt werden. Haben wir die Zeichen der Zeit tatsächlich begriffen? Kaum.

Aber auch die Lebensstile, die Lebenswirklichkeiten, die familiären Alltagsbilder, die Bildungssituationen, die sozialen Einstellungen, die wertorientierten Grundhaltungen sind komplexer und vielfältiger geworden. Die “Ehe für alle“ zum Beispiel war vor fünf Jahren undenkbar, heute ist sie gelebte Normalität. Noch vor 30 Jahren vereinigten CDU/CSU und SPD rund 90 Prozent der Wahlstimmen auf sich, heute sind es nicht mal mehr 40 Prozent. Das Heidelberger Sinus-Institut spricht schon seit Jahren von zehn Milieus, in denen die Menschen in Deutschland zu Hause sind. Und alle möchten sich wiederfinden in ihrer „Welt“ der Arbeit der Familie, der Freizeit, der Technik. Was heute technisch undenkbar scheint, kann morgen oder übermorgen Realität werden. Die Beschleunigung fordert. Denken wir in dieser temporeichen Vielfalt und geben gesellschaftliche Antworten zu den anstehenden Fragen, die schließlich in der Demokratie einer gelebten Bürgervielfalt mehrheitsfähig werden müssen? Komplexität und Vielfalt in einer digitalen, demografisch und wertbasiert sich ändernden Gesellschaft braucht vielfältige Antwortoptionen. Liefern wir sie? Kaum?

Die Belegschaften waren in Deutschland im Durchschnitt noch nie so alt: 45 Jahre. In wenigen Jahren geht die große Generation der Babyboomer in den Ruhestand. Wer folgt ihnen? Oder gelingt es, sie länger im Betrieb zu halten? Die Politik hat als Lösung „Rente mit 63“ entwickelt, die Realität wird eine Vielfalt an Generationen und Kulturen im Arbeitsleben managen, moderieren oder gar mediieren müssen. Die Jüngeren können zwar schneller rennen, aber die Älteren kennen die Abkürzung. Und wir brauchen alle Wissensbereiche und Generationen und Kulturen und Geschlechter und Lebensmilieus. Ist diese komplexe Vielfalt bereits integraler Bestandteil der betrieblichen Realitäten? Kaum.

Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird einerseits eine Möglichkeit sein, die Produktions- und Lieferprozesse neu zu gestalten, sie wird auch eine Möglichkeit sein, insbesondere in bestimmten Branchen, den Fachkräftebedarf zu reduzieren, aber machen wir uns nichts vor: die meisten Berufe, die es 2040 oder 2050 geben wird, kennen wir heute noch nicht. Die Beschleunigung der Veränderungsprozesse, nicht nur technisch, sondern auch in den Köpfen der Beschäftigten, wird eine permanente Weiterbildung abverlangen. Hinzu kommen intergenerative und interkulturelle Kompetenzen, die künftig als empathische Grundvoraussetzung gelten. Wissen die Beschäftigten, welche Herausforderungen der steten (Weiter-) Qualifizierung auf Sie zukommen? Vielleicht.

Fazit: Vielfalt wird die ständige Komponente der Gestaltung von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur sein, die aber gleichzeitig ohne demografische Veränderungsbedingungen und digitale Gelingensfaktoren nicht nachhaltig gedacht werden kann. Auch hier ist die Gesellschaft im Kleinen wie im Großen, in Stadt und Land, in Betrieben, Verbänden und Familien mit konkreten Lösungsideen weiter. Sie zu sammeln, zu sortieren und zu verbreiten, wird eine lohnende und dankenswerte Aufgabe der Zukunft sein.

Verantwortlich: Dr. Winfried Kösters, Tel.: 0049 2271 92858